PSYCH up2date 2024; 18(02): 169-183
DOI: 10.1055/a-2114-9278
Persönlichkeitsstörungen, Impulskontrollstörungen und dissoziative Störungen

Der vulnerable Narzissmus

Claas-Hinrich Lammers
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Unter dem Begriff des Narzissmus werden in der Regel deutlich sichtbare grandiose Persönlichkeitseigenschaften wie Anspruchshaltung, Selbstidealisierung und Dominanz verstanden. In der klinisch-therapeutischen Praxis überwiegen aber Patient*innen mit einem vulnerablen Narzissmus, deren narzisstischen Eigenschaften sich oftmals hinter einem zurückhaltenden und sozial angepassten Verhalten verbergen. Der Beitrag beleuchtet diesen Typus.

Kernaussagen
  • Neben dem bekannten grandiosen Narzissmus gibt es auch eine vulnerable Form des Narzissmus.

  • Der vulnerable Narzissmus wird aus Unkenntnis über dessen klinisches Erscheinungsbild häufig nicht erkannt und die Betroffenen fehldiagnostiziert (insbesondere chronische Depression und soziale Phobie).

  • Die Gemeinsamkeit beider Formen des Narzissmus ist in der geringen Ausprägung des Persönlichkeitsfaktors der Verträglichkeit zu suchen (sog. Antagonismus).

  • Der Unterschied besteht in der hohen Ausprägung des Faktors der Extraversion beim grandiosen Narzissmus und dessen niedrigen Ausprägung beim vulnerablen Narzissmus, bei gleichzeitig hoher Ausprägung des Faktors Neurotizismus.

  • Vulnerable Patient*innen haben im Gegensatz zu grandiosen Patient*innen ein niedriges Selbstwertgefühl, erleben insbesondere Gefühle von Scham, Schuld und Angst, und treten zur Vermeidung von Kritik und Ablehnung eher zurückhaltend und schüchtern auf.

  • Sehen sie sich dennoch mit Kritik und Ablehnung konfrontiert, dann reagieren sie oftmals mit Kränkung, Abwertung und Wut.

  • Mit dem dimensionalen Persönlichkeitsstörungskonzept nach der neuen ICD-11 können vulnerable narzisstische Eigenschaften erstmals diagnostiziert werden.

  • Der vulnerable Narzissmus weist eine große Überlappung mit der Borderline-Störung auf.

  • Psychotherapeutische Interventionen können sich teilweise an Elementen der DBT, insbesondere der Emotions- und Stressregulation, orientieren. Aufgrund des großen Misstrauens der Patient*innen sollte ein besonderer Fokus auf die therapeutische Beziehungsgestaltung gelegt werden.



Publication History

Article published online:
28 March 2024

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